Ave Maria

Ein Engel spricht Lateinisch

"Der englische Gruß" hat nichts mit der englischen Sprache zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Gruß eines Engels, der - nach der kirchlichen Tradition - nicht Englisch sondern Lateinisch gesprochen hat. Der Engel Gabriel begrüßt die Jungfrau Maria – nach Lukas 1 - mit den Worten: "Ave Maria", "Gegrüßet seist du, Maria". Auch die Antwort Marias wird vorzugsweise auf Lateinisch wiedergegeben: "Magnificat", "Meine Seele erhebt den Herrn".

Marias Begegnung mit dem Engel ist in der christlichen Kunst ungezählte Male dargestellt worden. Bekannt sind vor allem die Gemälde aus dem 15. Jahrhundert von Fra Angelico, Sandro Botticelli und Leonardo da Vinci. Eindrücklich ist auch eine Holzplastik aus dem frühen 16. Jahrhundert. Sie stammt von dem Künstler Veit Stoß, hängt in der Kirche St. Lorenz in Nürnberg und trägt den Namen "Der englische Gruß".

Zahlreiche Komponisten haben das "Ave Maria" vertont: z.B. Heinrich Schütz, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt, Anton Bruckner und Johannes Brahms. Die beiden bekanntesten Vertonungen sind kurioserweise ohne das Wissen des jeweiligen Komponisten entstanden.

So übernahm der französische Komponist Charles Gounod das Präludium in C-Dur aus dem "Wohltemperierten Klavier" von Johann Sebastian Bach und kombinierte es mit seiner Ave-Maria-Melodie. Dieses Werk ist als "Ave Maria von Bach/Gounod" in die Musikgeschichte eingegangen.

Ähnlich erging es dem Komponisten Franz Schubert, der für seinen Liederzyklus "Das Fräulein vom See" ein Lied mit dem Titel "Ellens dritter Gesang" schuf. Der Text dieses Liedes ist später durch das lateinische Ave Maria ersetzt worden. Darum wird das Werk heute als "Schuberts Ave Maria" bezeichnet.

Weder das Ave Maria von Bach noch das Ave Maria von Schubert durften früher in einer evangelischen Kirche dargeboten werden, weil überzeugte Protestanten beide Stücke für "zu katholisch" hielten. Ich habe diesen Vorbehalt nie verstanden, erstens weil das Ave Maria in der Bibel steht und zweitens weil es auch von evangelischen Komponisten vertont worden ist. Ich glaube auch, dass diese kleinliche konfessionelle Diskussion nur von dem ablenkt, worum es eigentlich geht.

Die Begegnung von Maria und dem Engel ist ein Symbol. Sie steht zeichenhaft für etwas ganz anderes, nämlich für die Berührung von Himmel und Erde. Diese Berührung bewirkt etwas. Sie verändert die Erde. Sie schafft eine Umkehr der irdischen Verhältnisse. Davon singt Maria in ihrem Lied, dem Magnificat: "Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen".

Ein modernes Magnificat stammt von einer jungen Frau aus Pakistan. Sie heißt Malala Yousafzai und wurde am 9. Oktober 2012 durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Und zwar nur deshalb, weil sie –- gegen den Willen der Taliban - ihr Recht auf einen Schulbesuch durchsetzen wollte. Gott sei Dank konnte ihr Leben gerettet werden. Am 12. Juli 2013, ihrem 16. Geburtstag, durfte sie eine Rede halten vor der Jugendversammlung der Vereinten Nation. Dabei sagte sie unter anderem: "Ich spreche nicht für mich, sondern um denjenigen, die keine Stimme haben, Gehör zu verschaffen. (...) Ich bin gegen niemanden. Ich bin auch nicht hier, um aus persönlicher Rache die Stimme gegen die Taliban (...) zu erheben. Ich bin hier, um für jedes Kind das Recht auf Bildung einzufordern. Ich möchte Bildung - auch für die Söhne und Töchter der Taliban". Der Schluss von Malalas Rede klingt – in meinen Ohren - fast wie ein englischer Gruß: "One child, one teacher, one book and one pen can change the world".

Niko Natzschka

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