Frühling im Herbst

Der Fall der Mauer

"Der eigensüchtige Riese". So heißt ein Märchen von Oscar Wilde (1854-1900). Der irische Schriftsteller hat dieses Märchen seinen beiden Söhnen gewidmet und darin seine eigene Lebensgeschichte verarbeitet.

Es war einmal ein Garten mit weichem Gras und bunten Blumen. In diesem Garten spielten die Kinder, wenn sie mittags aus der Schule kamen. Und die Vögel saßen in den Bäumen und sangen dazu ihr Lied. Die Kinder wussten nicht, dass der Garten und das dazugehörige Haus einem Riesen gehörten.

Eines Tages kam dieser Riese heim. Und er war ziemlich schlecht gelaunt. "Was macht ihr da?", brüllte er. "Das ist mein Garten. Ihr habt hier nichts zu suchen!". Die Kinder erschraken, als sie die laute Stimme hörten, und liefen davon. Der Riese aber zog eine hohe Mauer um seinen Garten und stellte ein Schild auf. Darauf stand: "Unbefugten ist der Zutritt bei Strafe verboten".

Es vergingen Tage und Wochen. Dann zog der Frühling ins Land. Überall blühten die Blumen. Überall sangen die Vögel. Nur im Garten des Riesen blieb es Winter. Eine dicke Schneedecke bedeckte das grüne Gras. Und ein kalter Nordwind fegte durch die schlohweißen Bäume. Der Riese schaute aus dem Fenster seines Hauses und wartete auf den Frühling. Aber der Frühling kam nicht. Und der Sommer auch nicht. Der Herbst brachte überall goldgelbe Früchte, nur nicht im Garten des Riesen.

Eines Morgens wachte der Riese auf. Er glaubte einen ganzen Chor von Sängern gehört zu haben. Er sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster. Doch draußen zwitscherte nur ein einziger kleiner Vogel. Dann sah der Riese, dass die Mauer ein Loch hatte, durch das die Kinder in seinen Garten eindrangen. Voller Freude lief er in den Garten, doch die Kinder ergriffen die Flucht. Nur ein kleiner Junge blieb stehen. Der Riese beugte sich zum ihm hinunter, nahm den Jungen in seine Arme und setzte ihn in einen Baum. Dann ergriff er eine Axt und riss die selbstgebaute Mauer wieder ein. Und plötzlich war es – mitten im Herbst - Frühling.

Was Oscar Wilde in diesem Märchen beschreibt, ist seine psychische Situation, seine soziale Ächtung als Homosexueller und die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit den ihm entzogenen Kindern. Was er nicht geahnt hat, ist, dass sein Märchen eines Tages auch politisch verstanden werden könnte: als Symbol für die deutsche Teilung und den Fall der Mauer.


 

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