Nachgedacht

Cinechurch

Es war für mich der Eintritt in eine neue Welt. Ich saß, fernab von den harten Kirchenbänken, in einem roten Komfortsessel. Zu meiner Linken stand ein Popkorn-Eimer im XXL-Format, zu meiner Rechten ein Pappbecher mit sageundschreibe eineinhalb Litern Cola. Jawohl, ich war in dem neuen Megamultiplexkinocenter unweit des Autobahnkreuzes Biebelried. Und ich sah den neuen James-Bond-Film "Die Welt ist nicht genug".

Gerade wurde Pierce Brosnan alias 007 auf einem Laufsteg am Kaspischen Meer von einem Hubschrauber verfolgt, während der neue BMW von einer rotierenden Kreissäge zerteilt wurde. Da dachte ich mir: Hätte man diese Szene nicht mit dem Computer simulieren können und den BMW dafür einem bedürftigen Pfarrer als Dienstwagen zur Verfügung stellen können? Während ich noch über diese Frage nachdachte, schlief ich plötzlich ein.

In meinem Traum wurde ich von einem Hubschrauber durchs Frauenland gejagt, während eine rotierende Kreissäge gerade die Martin-Luther-Kirche zerteilte. Ich floh mit meinem neuen BMW durch das Dunkel der Nacht, bis ich endlich das Autobahnkreuz Biebelried erreichte. Dort blinkte mir zwischen Capitol und Cineworld die Leuchtreklame meines neuen XXL-Kirchencenters entgegen.

Während ich meinen Autoschlüssel einem rot gekleideten Boy überreichte, schritt ich durch die sich selbsttätig öffnenden Glastüren in ein lichtdurchflutetes Foyer, in dem eine goldene Statue von Martin Luther stand. Ein ebenfalls rot gekleidetes Girl überreichte mir einen Wodka Martini geschütteltnichtgerührt. Da dachte ich mir: Welch eine Serviceoase in der Wüste kirchlicher Angebote, wo die Menschen sonst nur wie lästige Fliegen behandelt werden!

Erst der Blick auf den Display führte mich zu einer gewissen Ernüchterung: Denn im Programm dieser Cinechurch gab es keinen Gottesdienst mehr für die ganze Gemeinde. Die Jugendlichen feierten gerade ihre Worship Night, die Senioren hörten die Kleine Nachtmusik. Die eine Veranstaltung nannte sich "Frauen für alle", die andere "Männer gegen alles". Im einen Saal frohlockten die Pietisten, im anderen röhrten die Modernisten. Nicht einmal die Aussiedler aus Siebenbürgen und Russland waren bereit, gemeinsam zu beten.

Vielleicht, so durchfuhr es mich plötzlich, wird diese Kirche eines Tages noch viel mehr Säle haben. In jedem dieser Säle wird es nur noch einen Sessel geben. Dann kann jeder Christ seinen eigenen Gottesdienst feiern. Der Glaube wird unheimlich komfortabel werden, aber der Mensch unglaublich einsam. Darüber war ich so erschrocken, dass ich sofort aus meinem Traum erwachte.


 

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