Der andere Weg

Das Hohelied der Liebe

Paulus von Tarsus ist nach biblischer Überlieferung der erste und wichtigste Theologe der christlichen Kirche. Als griechisch gebildeter Jude und gesetzestreuer Pharisäer verfolgte er zunächst die Anhänger Jesu. Doch durch eine Erscheinung des Auferstandenen vor den Toren von Damaskus fühlte er sich plötzlich dazu berufen, vor allem Nichtjuden für das Evangelium zu gewinnen. Im Rahmen dreier Missionsreisen gründete er vor allem in der heutigen Türkei und in Griechenland eine Reihe von Gemeinden, die er durch seine Briefe weiterhin begleitete.

Insbesondere der Römerbrief und die beiden Korintherbriefe bieten ein umfassendes theologisches System, welches das Leben und die Lehre Jesu aufnimmt und zugleich interpretiert. Die Deutung des Paulus hat Maßstäbe gesetzt: Theologen wie Augustin von Hippo, Martin Luther und Karl Barth haben in der Begegnung mit dem Römerbrief ihre Lebenswende erlebt. Seit der Aufklärung verstehen viele Denker – u.a. Friedrich Nietzsche und Hannah Arendt – Paulus als den eigentlichen Gründer des Christentums.

Ausgerechnet dieser Paulus, der an der Entstehung und Ausbreitung des Christentums so entscheidenden Anteil gehabt hat, schreibt in seinem 1. Brief an die Korinther: "Und ich will euch noch einen anderen Weg zeigen". Mit diesen Worten beginnt ein Exkurs, der ein ganzes Kapitel umfasst und heute als "Das Hohelied der Liebe" bezeichnet wird. Erstaunlicherweise spricht dieses Lied an keiner Stelle von Gott oder von Jesus: "Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, ... sie lässt sich nicht erbittern, ... sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf".

Es gibt keinen Trautext, der so häufig von Brautpaaren gewünscht wird wie dieser. Das ist gewiss kein Zufall. Denn dieser Text bildet eine Brücke – nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen den Konfessionen und den Religionen. Er ist zugleich eine Brücke zwischen der christlichen Tradition und dem modernen Menschen, der im Innersten seines Herzens glaubt, aber seinen Glauben nicht mehr in der Sprache und den Dogmen der Kirche formulieren kann oder will. Das Hohelied spricht von Gott, ohne seinen Namen zu nennen.


 

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