Einer hat gewunken

Der Junge an der Schranke

"Nein, tut mir leid", sagte der Nachtportier, "ich habe kein Einzelzimmer mehr". Herr K. sah ihn ratlos an. "Das heißt ... einen Moment bitte. Ich habe da noch ein Doppelzimmer. Das ist erst mit einer Person belegt". "Ich nehme das Bett", erklärte Herr K. ohne zu zögern. "Seien Sie ganz leise", sagte der Portier, "der andere schläft schon".

Wenig später schloss Herr K. die Zimmertür auf und griff zum Lichtschalter. "Halt!", tönte es aus der Dunkelheit. "Machen Sie kein Licht an. Ich liege schon im Bett". Herr K. tastete sich durch den dunklen Raum. "Und stolpern Sie nicht über meine Krücke!", brummte der Fremde. Herr K. tastete sich zu seinem Bett, entkleidete sich und schlüpfte unter die Decke.

"Sind Sie auch geschäftlich hier?, fragte der Fremde. "Nein", sagte Herr K., "privat". "Und warum?", fragte der Fremde. "Wegen meinem Sohn", sagte Herr K., "er besucht hier ein Internat". "Ist er krank?", fragte der Fremde. "Nein", sagte Herr K., "er ist nur sehr verzweifelt. Jeden Morgen, wenn er zur Schule geht, steht er an der Schranke und wartet auf den Frühzug. Und wenn der Zug vorbeifährt, dann winkt der kleine Kerl ganz heftig. Er winkt in der Hoffnung, dass einer der Fahrgäste ihm zurückwinkt. Aber bisher hat noch nie einer gewunken".

"Ja und?", fragte der Fremde. "Ich werde morgen den Frühzug nehmen", sagte Herr K., "und meinem Sohn zuwinken, wenn er an der Schranke steht". "Das ist ja lächerlich", erwiderte der Fremde. "Überhaupt nicht", sagte Herr K., "Es ist mein Kind". "Ich hasse Kinder", erklärte der Fremde. "Meine Frau ist bei der Geburt des ersten Kindes gestorben. Auch das Kind hat nicht überlebt".

Noch lange lagen die beiden Männer wach in ihren Betten, ohne ein Wort zu sagen. Irgendwann schlief Herr K. ein. Plötzlich schreckte er wieder auf. Denn er meinte, das Signal eines Zuges gehört zu haben. Erschrocken blickte er auf die Uhr: 7.45 Uhr! Gerade hatte der Frühzug die Schranke passiert. Und er hatte verschlafen. Herr K. drehte sich um: Das Bett neben ihm war leer!

Völlig niedergeschlagen reiste Herr K. wieder nach Hause. Am nächsten Wochenende empfing er seinen Sohn an der Tür. Der Junge lief ihm strahlend entgegen, fiel ihm um den Hals und rief: "Einer hat gewunken!". "Wer denn?", fragte der Vater. "Ich weiß nicht", sagte der Junge. "Ich habe nur eine Krücke gesehen".


 

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