Ein Lehrer bekommt Noten

Vom Umgang mit Kritik

Wenn ich als Kind in der Schule eine gute Note bekam, hatte ich stets den Eindruck: "Der Lehrer mag mich". Wenn ich eine schlechte Note bekam, hatte ich dagegen den Eindruck: "Der Lehrer mag mich nicht". Das heißt: Ich habe Schulnoten nie als Spiegel meiner Leistung verstanden, sondern immer als Sympathie- oder Antipathiebekundungen des jeweiligen Lehrers. So war das, als ich ein Kind war.

Heute bin ich erwachsen. Und ich bekomme immer noch Noten. Als Lehrer von meinen Schülern, deren Eltern und meinen Kollegen. Als Pfarrer von meinem Vorgesetzten, den Mitgliedern des Kirchenvorstandes und den Besuchern meiner Gottesdienste. Sie alle benoten mein Verhalten Tag für Tag mit ihrem Lob und ihrem Tadel. Wenn der Unterricht langweilig ist, machen meine Schüler Lärm. Wenn meine Predigt langweilig ist, bleiben die Besucher beim nächsten Mal weg.

Es fällt mir nicht immer leicht, mit Kritik umzugehen. Manchmal erwacht sogar das Kind in mir. Dann sehe ich in dem, der mich lobt, einen Freund, und in dem, der mich tadelt, einen Feind. Die Folge: Ich meide alle, die mich kritisieren, und umgebe mich nur noch mit denen, die mich in meinen Auffassungen bestätigen. Damit nehme ich mir jedoch selbst jede Möglichkeit, mein Verhalten zu verbessern, Fehler zu korrigieren und mich als Person weiterzuentwickeln.

Wer in Schule und Kirche, aber auch in Politik und Wirtschaft Verantwortung trägt, muss – meiner Ansicht nach – kritikfähig sein. Das heißt: Er muss dazu bereit und in der Lage sein, konstruktive Kritik zu üben und – wenn nötig – auch anzunehmen. Konstruktiv ist eine Kritik dann, wenn sie zeitnah, präzise, sachbezogen und einfühlsam ist, wenn sie die Stellungnahme des Kritisierten zulässt und ihm zugleich Lösungsmöglichkeiten aufzeigt.

Konstruktive Kritik ist eine Form der Wertschätzung, Kritiklosigkeit dagegen eine Form der Gleichgültigkeit. "Kritiker sind gute Freunde, die uns auf Fehler hinweisen", sagt der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin. Und der französische Dichter Victor Hugo ergänzt: "Der letzte Beweis von Größe liegt darin, Kritik ohne Groll zu ertragen".


 

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