Farben für den Winter

Eine Maus sammelt Vorräte

"Du Drückeberger, du Faulpelz, du Nichtsnutz", schimpften die anderen Mäuse. "Wir schuften hier Tag und Nacht und sammeln Vorräte für den Winter. Und was machst du? Du sitzt einfach in der Sonne - und tust nichts".

"Doch", sagte Frederick, "ich tue etwas: Ich sammle Sonnenstrahlen. Denn der Winter ist dunkel". Die anderen Mäuse schrien: "Das stimmt doch gar nicht! Du starrst doch bloß auf die Wiese - und tust nichts". "Doch", sagte Frederick, "ich tue etwas: Ich sammle Farben. Denn der Winter ist grau". Die Mäuse tobten: "So ein Unsinn! Du träumst nur vor dich hin - und tust nichts". "Doch", sagte Frederick, "ich tue etwas: Ich sammle Wörter. Denn der Winter ist sprachlos".

Dann kam der Winter. Als der erste Schnee fiel, zogen sich die Mäuse in ihr Versteck zurück. Sie lebten in Saus und Braus. Denn sie hatten Körner und Nüsse, Weizen und Stroh. Doch der Winter dauerte lang, die Tage wurden immer kälter. Nach einiger Zeit gingen ihre Vorräte aus. Die Mäuse begannen zu hungern und zu frieren. Da dachten sie auf einmal an Frederick.

"Frederick", riefen sie, "was machen deine Vorräte?". Da erzählte Frederick von den Sonnenstrahlen, die er gesehen hatte. Und es wurde hell in dem dunklen Versteck. Er erzählte von den Farben, die er gesehen hatte. Da wurden die Mäuse froh. Er fing an zu dichten. Da wurde es warm. "Du bist ja ein Dichter", riefen die Mäuse. Da wurde Frederick rot, verbeugte sich und sagte: "Ich weiß es, ihr lieben Mäusegesichter".

Diese Geschichte stammt von dem italienischen Autor und Grafiker Leo Lionni. Die Mäuse in seiner Geschichte sind Menschen. Wir Menschen leben vom Ertrag unserer Arbeit, von den Vorräten in unserem Kühlschrank und dem Geld auf unseren Bankkonten. Aber genügt das, um im Winter des Lebens zu bestehen? Leo Lionni sagt: "Nein, es genügt nicht!". Wir brauchen Sonnenstrahlen, Farben und Wörter. Wir brauchen Kunst und Kultur, die Malerei, die Musik und die Poesie. Wir brauchen Menschen wie Frederick, die uns die Vision geben von einer anderen, besseren Welt.


 

 

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