Begegnung mit dem Ich

Das Spiegelkabinett

Schon als Kind habe ich das Volksfest auf der Talavera geliebt. Auch heute noch genieße ich bei einer Fahrt mit dem Riesenrad den phantastischen Blick über Würzburg. Schade ist nur, dass die modernen Fahrgeschäfte einige bewährte Attraktionen verdrängt haben. Vor allem das Spiegelkabinett hat mich als Kind fasziniert - die Möglichkeit, mich selbst in zahllosen Spiegeln zu sehen, die teils konvex und teils konkav gebogen waren.

Man erzählt sich von einem Hund, der einmal unbemerkt von der Kassendame in das leere Spiegelkabinett gehuscht war. Er stand zwischen den Wänden voller Spiegel und sah auf einmal ungezählte andere Hunde. Diese Hunde sahen so aus wie er, aber sie waren viel größer oder kleiner, dicker oder dünner. Und alle hatten eins gemeinsam - den bösen Blick.

Der Hund ging weiter, doch er fühlte sich bedroht auf Schritt und Tritt. Er knurrte leise. Und alle Hunde knurrten zurück. Er fletschte mit den Zähnen. Und alle fletschten mit. Er bellte, so laut er konnte. Und alle bellten zurück. Das vielfache Echo schwoll an zu einem gellenden Konzert. Voller Panik lief der Hund durch die verspiegelten Gänge. Doch die anderen Hunde hetzten hinter ihm her. Er raste vor Verzweiflung, aber er konnte seine Verfolger nicht abschütteln. Mit letzter Kraft erreichte er schließlich den Ausgang. Er stürzte hinaus - und ward nie wieder gesehen.

Schon als Kind habe ich mir überlegt: Was wäre gewesen, wenn der Hund am Anfang nicht so böse geknurrt, sondern nur freundlich mit dem Schwanz gewedelt hätte? Er hätte zahlreiche wedelnde Freunde gefunden und das Spiegelkabinett als einen Ort der Harmonie erlebt.

Nun bin ich erwachsen. Und die Welt ist für mich wie ein großes Spiegelkabinett. Das heißt: Jedes freundliche Lächeln, jeder liebevolle Blick und jedes gute Wort kann ein tausendfaches Echo auslösen. Denn alles, was ich in meinem Leben tue, kommt zu mir zurück.